Brauch oder Barbarei: „Feuerwerk ist Synonym für Glücksgefühle“, sagt Pyrotechniker
Kliniken am Limit, hohe Feinstaubbelastung, Tierquälerei: Argumente gegen das Böllern an Silvester gibt es viele. Die Feuerwerks-Fraktion freut sich unterdessen schon auf die dreifache Lieferung.
Köln – Feuer begeistert Markus Strasser schon immer. „Meine Mutter hat mir mal erzählt“, sagt er am Telefon, „dass ich schon als Kind meinen Schnuller in den Kamin geworfen habe.“ So gesehen hat Strasser sein Hobby zum Beruf gemacht. Er ist gelernter Pyrotechniker. Heute arbeitet Strasser als Marketing-Chef eines Online-Shops für Feuerwerk. Er ist damit Teil einer Branche, die jedes Jahr aufs neue am Pranger steht. Der Feinstaub! Die verängstigten Tiere! Die abgesprengten Finger! Und überhaupt: Die Knallerei ist doch völlig aus der Zeit gefallen, sagen die einen. „Feuerwerk ist ein Synonym für Glücksgefühle“, findet Strasser.
Das sehen nicht alle so. Ein Verbot fordert unter anderem die Gewerkschaft der Polizei und die Bundesärztekammer. Viele Städte weisen Gebiete aus, in denen Feuerwerk verboten ist. Einem generellen Verbot wie in den letzten beiden Jahren hat das Bundesinnenministerium allerdings eine Absage erteilt. Dabei haben sich in einer kürzlich veröffentlichen Online-Befragung der Verbraucherzentrale Brandenburg 53 Prozent für ein Verbot von privatem Feuerwerk ausgesprochen.

Silvester-Feuerwerk: So viel Feinstaub wie an keinem anderen Tag im Jahr
Wie belastend das Silvester-Feuerwerk für die Umwelt ist, berechnet das Umweltbundesamt. So werden in Schnitt 2.050 Tonnen Feinstaub erzeugt. Das entspricht in etwa einem Prozent der in einem ganzen Jahr freigesetzten Feinstaubmenge in Deutschland. Damit ist am ersten Tag des neuen Jahres die Luftbelastung vielerorts so hoch wie sonst an keinem weiteren Tag im Jahr. Basis für diese Zahlen sind die Export- und Importmengen nach Deutschland. Was methodisch klingt, hat ganz praktische Auswirkungen: Böller „Marke Eigenbau“ und illegal eingeführtes Feuerwerk sind nicht eingerechnet.

Dennoch sinkt Feinstaub-Wert. Das Umweltbundesamt hat seine Berechnungsmethode auf Druck der Pyrotechnik-Lobby modifiziert und kann so einen Trend besser erfassen: Klassische Böller werden immer seltener nachgefragt. Beliebter sind Feuerwerksbatterien. Sie produzieren weniger Feinstaub. Doch auch die winzigsten Partikel können Atemwege reizen und auf Dauer die Lungenfunktion stören – das ist besonders für Asthmatiker gefährlich.
Unfallchirurg: „Einen abgesprengten Finger kann man in der Regel nicht mehr annähen“
Kurzfristig überwiegen allerdings andere medizinische Notfälle. Einer, der weiß, wie es während der Silvesternacht in einer Notaufnahme zugeht, ist Dietmar Pennig. Bis 2021 war er Chefarzt der Unfallchirurgie und Orthopädie an einer Kölner Klinik. „Die personelle Situation in den Notfallversorgungen ist wegen der hohen Vorhaltekosten schon jetzt auf Kante genäht“, sagt Pennig. „Dazu kommen an Silvester noch mindestens 50 bis 60 weitere Behandlungen in einer Klinik.“ Typischerweise seien das Handverletzungen, Augenverletzungen und Knalltraumen. „Die sind nicht selten irreparabel. Einen abgesprengten Finger kann man in der Regel nicht mehr annähen“, sagt Pennig.
Zur Wahrheit gehört für Penning aber auch: Wer ein Verbot von Feuerwerkskörpern fordert, sollte sich auch dafür einsetzen, Volksfeste abzuschaffen. „Die Belastung ist an Karneval ähnlich hoch, nur verteilt sie sich auf den ganzen Tag. Silvester dauert die kritische Phase nur einer paar Stunden, allerdings in der Nacht“, so Pennig.
Böller und Raketen: „Unser Hund dreht komplett durch, er zittert richtig“
Nicht nur für Menschen ist Feuerwerk eine Gefahr. In erster Linie leiden Tiere darunter. Dass Wildtiere durch Lärm und Licht in Panik geraten können, bekommen viele Menschen nicht mit – beim eigenen Hund ist es nicht zu übersehen. Wie schlimm er leidet, hänge mit dem Charakter des Hundes zusammen, sagt Jörg Bartscherer. Er ist Geschäftsführer des Verbands für das Deutsche Hundewesen (VDH). „Wir haben einen Hund, neben dem kann direkt ein Böller explodieren, das interessiert den gar nicht. Unser zweiter Hund dreht hingegen komplett durch, er zittert richtig“, so Bartscherer.
Wie man das Dilemma lösen kann, weiß Bartscherer nicht. Verbote? „Jein“, sagt er. „Ich tue mich schwer mit der um sich greifenden Verbotskultur. Man sollte sich einfach fragen: Muss das sein?“ Bartscherer kann mit seiner Familie seit Jahren keine Silvesterparty besuchen. Dafür brauche ihr Hund eine viel zu enge Betreuung.
Ein Schicksal, das Pyrotechniker Strasser teilt, obwohl er keinen Hund hat. Ihn hindern berufliche Gründe. „Der 31. Dezember ist der wichtigste Verkaufstag im Jahr, das ist purer Stress“, sagt er. Der Online-Shop, für den er arbeitet, hat auch ein Forum als Ableger: Austausch zu den neuesten Produkten, Verabredungen zu gemeinsamen Feuerwerk-Fahrten. Später konnten Hobby-Zündler auch eine Versicherung über den Club abschließen. „Wenn mal was passiert, kann das teuer werden“, sagt Strasser.
Debatte um Böllerverbot: „Jetzt werden sogar traumatisierte Geflüchtete eingespannt“
Ihn stört die Verengung der Debatte auf Böller. Feuerwerk sei doch viel mehr als dumpfe Knallerei. Ziel seines Frusts ist die Deutsche Umwelthilfe (DUH), die laut eigener Aussage „endlich Schluss machen will mit Böllern und sinnlosem Knallen an Silvester.“ Deren Argumentation sei zweifelhaft, sagt Strasser. „Jetzt spannt sie sogar Geflüchtete für ihre Zwecke ein“, sagt Strasser. „Seit 2015 kommen Menschen aus Syrien nach Deutschland, noch vor ein paar Jahren hat kein Mensch über wiederkehrende Traumata geredet.“
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Von Verboten hält Strasser nichts. Insbesondere die letzten beiden Jahreswechsel, als Verkauf und Abbrennen von Feuerwerk verboten war, hätten gezeigt: Unbeirrbare lassen sich ohnehin nicht abhalten. Zur Not fahren sie über die Grenzen und kaufen in Tschechien oder Polen ein. Gerade solche Importware sei es, die zu schweren Verletzungen führt, sagt Strasser. „Für dieses Feuerwerk braucht man teilweise extra eine Ausbildung.“ Die zweite große Gefahr seien selbst zusammengebastelte Knaller.
Ohne Verbote bleibt nur Eigenverantwortung
Ob schädlicher Feinstaub, überlastete Krankenhäuser oder verängstigte Hunde: Für Strasser sind all das keine Argumente. Er wird grundsätzlich: „Die Verbobts-Fraktion sollte mal überlegen, was ihre Hobbys für negative Begleiterscheinungen haben“, sagt er. „Wer gerne in den Urlaub fliegt, schädigt ebenfalls die Umwelt.“
Ohne Verbote bleibt es bei Appellen. Unausweichlich endet diese Argumentation bei einem Wort, das zuletzt ziemlich strapaziert worden ist: Eigenverantwortung. Ob und wie die diese in der Nacht zum 1. Januar 2023 aussehen wird, bleibt spannend. Im Jahr 2018 schossen die Deutschen Böller, Raketen und Co. mit einem Warenwert von rund 120 Millionen Euro in die Luft. Es kann gut sein, dass dieses Jahr einiges nachgeholt wird. „Viele Kunden haben in den letzten zwei Jahren trotz Verbot bei uns bestellt und wir haben die Ware eingelagert“, sagt Strasser. Im Klartext bedeutet das: Die kriegen jetzt die dreifache Menge.