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Volle Kirchen an Weihnachten: Doch wie christlich ist Deutschland eigentlich noch?

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Von: Fabian Hartmann

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In einer Kirche zündet jemand ein Licht an.
Licht der Hoffnung: Kirchen sind Orte der Gemeinschaft – doch die Mitglieder laufen ihnen davon.  © Lukas Barth/imago

An Weihnachten sind die Gottesdienste voll. Dabei ist der Trend eindeutig: So wird es das Christentum nicht mehr lange geben. Ein Ortsbesuch in der katholischen Diaspora – Berlin-Neukölln.

Berlin – An einem kalten Sonntag im Advent lässt sich beobachten, welche Kraft der christliche Glaube noch immer hat. Rund 50 Menschen, Familien mit Kindern, Paare, alte Leute, sind zum katholischen Gottesdienst in der St. Richard-Kirche in Berlin-Neukölln zusammengekommen.

Kerzenlicht erhellt den Altar. Vor der Gemeinde steht Priester Karl Hermann Lenz (64). Immer wieder animiert er die Besucher. Fragt die Gemeinde, wie es ihr geht, worüber die Menschen zuletzt dankbar waren. Eine Mutter tritt an den Altar und sagt, dass sie froh darüber ist, dass ihre Kinder in Deutschland, in Frieden, aufwachsen können. „Halleluja“, ruft Lenz.

Konservativ und schwulenfeindlich: Die Liste der Vorurteile über die katholische Kirche ist lang

In den 60 Minuten wird gesungen, gebetet – und gelacht. Ein Gottesdienst zum Mitmachen. Etwas, das man von der katholischen Kirche nicht unbedingt erwartet. Die Liste der Vorurteile über sie ist lang: konservativ, frauen- und schwulenfeindlich, verhaftet in seltsamen Traditionen – und dann die vertuschten Missbrauchsfälle. Wer mag sich da noch zum Katholizismus bekennen?

Unbestreitbar ist, dass es den Kirchen in Deutschland schlecht geht. Wohlgemerkt: beiden großen Amtskirchen. Immer weniger Menschen kommen in die katholischen und evangelischen Gottesdienste. Im Frühjahr 2022 ist etwas eingetreten, was es seit Jahrhunderten nicht gab: Erstmals gehörte eine Mehrheit der Bevölkerung keiner Konfession mehr an. Eine historische Zäsur. Noch 1990 waren mehr als 72 Prozent der deutschen Bevölkerung in einer der großen Kirchen Mitglied.

Priester Karl Hermann Lenz aus Berlin-Neukölln steht vor einer Kirche in seinem Bezirk.
Priester Karl Hermann Lenz aus Berlin-Neukölln findet, dass sich die Kirche mehr um die Probleme der Menschen kümmern muss.   © Fabian Hartmann

Volle Gottesdienste an Weihnachten können längst nicht mehr darüber hinwegtäuschen, dass sich die Deutschen von den Kirchen entfremdet haben. Allein im vergangenen Jahr hat die katholische Kirche in Deutschland mehr als 359.000 Mitglieder verloren – so viele wie noch nie. Aus der evangelischen Kirche sind rund 280.000 Menschen ausgetreten.

Kirche in der Krise: In Berlin sind Christen schon längst die Minderheit

Katholisch oder evangelisch: In Berlin stellt sich diese Frage schon lange nicht mehr. In der Hauptstadt gehören Christen nur noch einer kleinen Minderheit an. Von den 3,8 Millionen Einwohnern sind 13,4 Prozent evangelisch, 7,8 Prozent katholisch. Im Bezirk Neukölln, diesem Schmelztiegel der Kulturen mit seinen rund 320.000 Einwohnern aus 160 Nationen, sind die Werte ähnlich – was aber vor allem am bürgerlich geprägten Südteil liegt.

Die St. Richard-Kirche von Priester Karl Hermann Lenz liegt im Norden von Neukölln. Die Gegend war lange Zeit als sozialer Brennpunkt verschrien. Hier sorgte die Rütli-Schule im Jahr 2006 für ein bundesdeutsches Beben, als Lehrer mit einem Brandbrief an die Öffentlichkeit gingen und Gewalt und Verwahrlosung beklagten. Rütli und Neukölln wurden zum Synonym für gescheiterte Integration, Armut und Parallelgesellschaften.

Neukölln gilt heute als hip: Die Kirche hat es trotzdem schwer

Heute ist die Situation anders. Der Kiez gilt als hip, beliebt bei Zuzüglern aus aller Welt, die Mieten steigen. Doch noch immer prägen arabische Läden und Imbisse das Straßenbild rund um die zentrale Karl-Marx-Straße. Fast die Hälfte der Neuköllner Bevölkerung hat einen Migrationshintergrund – nach den Türken bilden Araber die zweitgrößte ethnische Minderheitengruppe. Die Einkommen sind hier niedriger als anderswo. Viele Menschen sind armutsgefährdet. Wer aus der U-Bahn steigt, fällt mitunter gleich einem Dealer in die Arme. An der Treppe zum Ausgang des Bahnhofs Karl-Marx-Straße halten sich Trinker auch am Sonntagvormittag an ihren Bierflaschen fest. Die nahegelegene Sonnenallee gilt als „die arabische Straße“ in Berlin. Kein einfaches Umfeld für den katholischen Glauben.

Die St. Richard-Kirche gehört zur Pfarrei Heilige Drei Könige Nord-Neukölln, einem Zusammenschluss aus drei Gemeinden. Sie versteht sich als Kirche im sozialen Brennpunkt, mit Angeboten wie einer Essensausgabe für Bedürftige, Wärmestuben und Kirchenasyl. Die Gemeinde stellt Räume für Treffen der Anonymen Alkoholiker zur Verfügung, und Mitglieder versorgen regelmäßig Obdachlose am Bahnhof Zoo.

Wer Priester Karl Hermann Lenz im Gemeindehaus besucht, sitzt einem aufgeweckten Geistlichen gegenüber. Im Viertel ist er für viele nur der „Kalle“. 1993 kam der gebürtige Nordhesse nach Berlin, um Gemeindearbeit mit einem sozialen Projekt zu verbinden – und ist geblieben. „Damals war das hier die Bronx von Berlin“, sagt er über Neukölln. Lenz kann begeistert von seinem Glauben erzählen. Genauso merkt man ihm die Empörung an, wenn es um die Missbrauchsfälle geht. „Das sind Verbrechen, die Kirchenleute begangen haben“, sagt Lenz. Die Mitgliederzahlen seien dadurch gesunken. „Es gibt auch Leute bei uns, die sagen: Nein, mit dem Verein möchte ich nichts mehr zu tun haben“, berichtet der Theologe.

Kirche in der Krise: Warum die Steuereinnahmen trotzdem hoch sind

Für die Kirche ist die Erosion bei den Mitgliederzahlen nicht nur ein großes moralisches Problem – sondern auch ein finanzielles. Zumindest irgendwann. Es erscheint zunächst paradox, dass die Kirchensteuereinnahmen bis 2019 kontinuierlich auf 12,7 Milliarden Euro angestiegen sind. Erst das Corona-Jahr 2020 brachte einen Einbruch. Doch weil es der Wirtschaft zuvor gut ging und die Kirchensteuer von der Höhe des Einkommens abhängt, profitierten auch die Kirchen von Aufschwung und steigenden Löhnen. Doch wie lange steht die Finanzierung noch? Das Fundament der Kirche bröckelt immer stärker, allein in einzelnen katholischen Bistümern hatte sich die Austrittswelle zuletzt verdoppelt.

Es könnte der Zeitpunkt kommen, an dem sich Fragen aufdrängen: Warum zieht der Staat noch die Kirchensteuer ein, wenn sich immer weniger Deutsche zum Christentum bekennen? Braucht es noch konfessionellen Religionsunterricht an Schulen? Und was ist mit den sogenannten Staatsleistungen an die beiden Amtskirchen? Rund eine halbe Milliarde Euro fließen jährlich aus den Etats der Bundesländer an die Kirchen ab. Einfach so, ohne Gegenleistung. Eine Folge des Jahres 1803, als die Güter der Kirchen enteignet wurden. Die Ampelkoalition im Bund verhandelt aktuell mit den Kirchen über eine Ablösung der Staatsleistungen.

Und dann wäre noch zu klären, was den Glauben überhaupt ausmacht. Vor allem Katholiken fremdeln. Über bestimmte innerkirchliche Debatten – etwa den Umgang mit Homosexuellen und Geschiedenen – kann auch Priester Lenz in Neukölln nur den Kopf schütteln. „Gott liebt alle Menschen“, sagt er. Die Kirche beschäftige sich zu viel mit sich selbst und zu wenig mit den Problemen der Leute, findet Lenz. Dabei seien so viele Menschen auf der Suche nach Antworten. Das zeige schon der spirituelle Trendsport Yoga oder das ungebrochene Interesse an Meditation. Gerade in krisenhaften Zeiten wie jetzt könnte die Kirche Halt geben. Die Frage ist: Warum schafft sie es nicht mehr, die Menschen zu berühren, ihnen ein Angebot zu machen?

Warum die Kirche nicht einfach ihr Angebot ändern kann

Ein Anruf bei Andreas Püttmann in Bonn. Der Publizist und Politikwissenschaftler ist bekennender Katholik und Kirchgänger. Auch er merkt natürlich, dass die Besucherzahlen im Gottesdienst rückläufig sind – selbst in seiner Heimat, im katholischen Rheinland. Es gebe dafür eine ganze Reihe von Gründen, sagt Püttmann. Und natürlich spielten auch die Missbrauchsfälle eine Rolle. Aber die Gesellschaft werde eben individueller, säkularer, die Kirche konkurriere mit einer Vielzahl von Freizeitmöglichkeiten. Daneben gibt es ein grundsätzliches Problem: „Ein Wirtschaftsunternehmen ändert das Angebot, wenn die Nachfrage ausbleibt. Die Kirche kann das nicht einfach tun“, sagt Püttmann. Ihr Maßstab ist das Evangelium.

Seine Diagnose: Die evangelische Kirche diene sich zu oft einem vermeintlichen progressiven Zeitgeist an. Das schrecke wirtschaftsliberale und konservative Christen ab. Die katholische Kirche sei manchen wiederum zu altbacken. Und zu prinzipientreu. Bei bestimmten Themen müsse sie aber „widerborstig“ bleiben, wie Püttmann es ausdrückt. Dazu gehört etwa die Frage nach dem Recht auf Abtreibung. „Der Schutz des Lebens, der Leibesfrucht, ist seit den Anfängen des Christentums als ethisches Unterscheidungsmerkmal belegt“, sagt er.

Publizist: „Die Kirche ist ein Faktor der politischen Mäßigung“

Doch natürlich müsse auch die Kirche wandlungsfähig sein. Nicht jede Forderung der Gesellschaft sei falsch. „Auch die Kirche musste dazulernen – etwa bei der Benachteiligung von Frauen oder dem Umgang mit Homosexuellen“, sagt Püttmann. In seinem Buch „Gesellschaft ohne Gott“ hat sich der Publizist schon vor über zwölf Jahren mit dem Verfall des Christentums auseinandergesetzt. Er ist überzeugt: Universelle Werte wie die Menschenrechte sind aus der christlichen Kultur erwachsen. Und ohne das Christentum wäre die Gesellschaft ärmer und kälter.

Der Einfluss der Kirche sei auch heute nicht zu unterschätzen. „Sie bleibt ein Faktor der politischen Mäßigung“, sagt Püttmann. Dort, wo viele gläubige Christen lebten, bekämen radikale Parteien wie die AfD auch weniger Stimmen. Und überhaupt: Was passiert, wenn Kirchen nicht mehr Altenheime, Kindergärten, Schulen betreiben und Seelsorge anbieten können? Für Püttman liegt ein Teil der Lösung darin, sich wieder stärker aufs Evangelium zu besinnen.

Priestermangel: Eine Gemeinde in Berlin hilft sich selbst

In Berlin-Neukölln beschäftigt sich auch Theologe Lenz mit diesen Fragen. Die Gemeinde setzt darauf, eng im Bezirk verwoben zu sein. Ansprechpartner zu sein. Ein Angebot für alle Menschen zu machen. Kirche im Multikulti-Stadtteil einer Metropole heißt oft, ganz pragmatisch nach Lösungen zu suchen. Das Thema Priestermangel beschäftigt auch die Gemeinde vor Ort. Und weil das Zölibat wohl auf absehbare Zeit nicht fällt, muss sich selber ausgeholfen werden. „Wir befähigen die Leute, an einem Sonntag im Monat selbst einen Gottesdienst zu feiern“, sagt Lenz. „Das schönste Kompliment ist, wenn ich hinterher höre, dass man mich nicht vermisst hat.“

Wer länger mit Karl Hermann Lenz spricht, hat nicht das Gefühl, dass Kirche ein Konzept von gestern ist. Im Gegenteil. Kirche ist das, was Menschen daraus machen. Und dennoch: Der Trend sinkender Mitgliedszahlen dürfte anhalten – trotz engagierter Geistlicher, die es im ganzen Land gibt. Wie die Bertelsmann Stiftung erst vor einigen Tagen mitgeteilt hat, denkt jedes vierte Kirchenmitglied in Deutschland über den Austritt nach. Jedes fünfte Mitglied ist fest entschlossen, auszutreten. Die Kirchen selbst haben eine Projektion aufgestellt, die zu dem Ergebnis kommt, dass 2060 nur noch 30 Prozent der Bevölkerung evangelisch oder katholisch sein werden.

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Nach dem Adventsgottesdienst in St. Richard steht Priester Karl Hermann Lenz noch vor der Kirche. Es ist bereits Mittag. Viele Kirchgänger sind direkt gegangen, andere stehen vor dem unscheinbaren Flachbau und reden. „Heute waren weniger Besucher im Gottesdienst als sonst“, sagt Lenz. Schwer zu sagen, woran es liegt. Vielleicht an der Kälte. Vielleicht an der Firmung, die am Vorabend war. Der Blick auf leere Bänke: Es ist etwas, an das sich Pfarrer und Priester in Deutschland nicht mehr gewöhnen müssen. Sie kennen es bereits.

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