Arzt zu Silvester-Dienst: „Einen abgesprengten Finger kann man in der Regel nicht annähen“

Böllern bis der Arzt kommt: Für Kliniken ist Silvester kein Spaß. Chefarzt Dietmar Pennig hat 40 Jahre in einem Krankenhaus gearbeitet und weiß, wie stressig der letzte Dienst des Jahres ist.
Köln – Seit einem Jahr ist Dietmar Pennig, 67 Jahre alt, im Ruhestand. Der Mediziner blickt auf 40 Jahre Erfahrung an Universitäts- und Schwerpunktkliniken in Deutschland zurück – in den Fachabteilungen Unfallchirurgie, Handchirurgie und Orthopädie. Zuletzt war Pennig Chefarzt im Kölner St. Vinzenz-Hospital. Er ist Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie.
Herr Professor Pennig, in ein paar Stunden geht die große Knallerei los. Was bedeutet das für die Krankenhäuser?
Dieses Jahr ist Silvester an einem Samstag. Das ist eher ungünstig, weil Kliniken an Wochenenden ohnehin auf Kante genäht sind. In Deutschland ist die Notfallversorgung auf verschiedene Anlaufstellen verteilt. Muss jemand mit komplexen Verletzungen operiert werden, stehen insgesamt 260 als erweitert und umfassend zugelassene Notaufnahmen zur Verfügung. Das ist nicht viel. Wir haben immerhin 83 Millionen Menschen zu versorgen. Dazu kommt: Immer mehr Kliniken ziehen sich aus der Notfallversorgung zurück, weil die hohen Vorhaltekosten nicht übernommen werden und es letztendlich zu stressig ist.
An Silvester werden ja nicht nur Böller gezündet: Sektkorken fliegen ins Auge, Schlägereien ufern aus.
Sektkorken ins Auge gibt es nicht nur an Silvester, das ist ein ganzjähriger Klassiker. Auch die Nachwirkungen von Schlägereien verarzten wir jedes Wochenende. Das würde ich ausklammern. Klar ist: Die Silvesternacht ist eine der schwierigsten Dienste des Jahres. Zu den üblichen „Partywehen“ kommen Feuerwerksverletzungen. Dazu haben wir natürlich auch am 31. Dezember das normale „Geschäft“: Verkehrsunfälle, Arbeitsunfälle oder Unfälle im Haushalt. Das alles geht in Kliniken durch eine zentrale Notaufnahme.
Wie anstrengend ist der Silvester-Dienst in der Notaufnahme?
Sehr anstrengend. Dazu sind wir von externen Einflüssen abhängig. Sollte es an Silvester regnen, gibt es weniger Notfälle, weil die Menschen weniger böllern. Ist es aber trocken, können Sie davon ausgehen, dass in einer Schwerpunktklinik 50 bis 60 zusätzliche Notfälle eintreffen, die sich durch Feuerwerk verletzt haben.
Aktuell sind Temperaturen bis 20 Grad angesagt.
Das muss man abwarten, am 1. Januar wissen wir mehr.
Arzt zu Gefahren von Böllern: „Das trifft besonders Kinder“
Warum gibt es an Silvester so viele Notfälle?
Das größte Problem ist Alkohol. Menschen werden übermütig – und verletzten sich. Es werden Mutproben veranstaltet. Was uns besonders schockiert: Immer wieder trifft es auch völlig Unbeteiligte. Wie oft ist es schon passiert, dass Menschen zu uns kommen, die von einer umgefallenen Raketen-Batterie beschossen wurden.
Was sind typische Verletzungen?
Viele Verletzungen treten auf, weil Feuerwerkskörper während des Abbrennens in der Hand gehalten werden. Teilweise explodieren sie auch dort. Dazu kommen Verletzungen im Gesicht. Wir wissen von den Augenkliniken, dass in der Silvesternacht bundesweit rund 200 zusätzliche Verletzungen auftreten, weil Feuerwerkskörper ins Auge fliegen. Das ist sehr viel – und lange nicht jede Blessur wird behandelt. Ein weiteres Problem sind Knalltraumen, die besonders Kinder treffen, weil sie sehr empfindlichere Ohren haben. Das Dramatische ist: Wir sprechen hier nicht über Fälle, wo wir einen Verband anlegen und gute Besserung wünschen. Das sind oftmals irreparable Schäden. Einen abgesprengten Finger kann man in der Regel nicht mehr annähen.
Die Feuerwerkslobby sagt: Die Verletzungen treten zu einem überwiegenden Teil bei nicht-zertifiziertem Feuerwerk auf. Können Sie das bestätigen?
Schwer zu sagen. Wir fragen die Patienten nicht, ob das entsprechende Feuerwerk eine CE-Zertifizierung hat. Das Material lässt sich doch problemlos online aus dem Ausland bestellen. Die Diskussion, welches Feuerwerk das Problem ist, finde ich müßig.
Außerdem sagt die Lobby: Krankenhäuser sind sowieso überlastet.
Es stimmt: Die Krankenhäuser sind am Anschlag. Das macht es aber nicht besser. Wäre der 31. Dezember ein ganz normaler Werktag, dann würden wir uns einen der stressigsten Dienste im Jahr sparen.
Versuchen Ärzte und Pfleger, um jeden Preis freizuhaben?
Nein, das musste ich auch nie per Ordre de Mufti entscheiden. Dennoch sind wir an der Belastungsgrenze. Manchmal musste man auch Leute anrufen, die eigentlich freihaben. Das funktioniert aber irgendwie. Grundsätzlich gibt es immer zwei Gruppen. Eine arbeitet an Weihnachten, die andere an Silvester. Wann jemand Dienst hat, hängt in erster Linie damit zusammen, ob er oder sie Kinder hat. Als meine Frau und ich noch keine Kinder hatten – sie ist auch Ärztin –, haben wir immer an Weihnachten gearbeitet.

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„Wer Böller verbieten will, sollte auch Karneval und Oktoberfest einschränken“
Sie haben 30 Jahre in Köln gearbeitet. Ist Silvester mit Karneval vergleichbar?
Von der Belastung her ist es ähnlich, aber es gibt andere Herausforderungen. An Weiberfastnacht brauchen wir zum Beispiel zusätzliches Reinigungspersonal, weil der ganze Dreck von draußen reingetragen wird. Dazu, nun ja, erleichtern sich die Menschen und verlieren die Kontrolle über ihre Körperfunktionen. Gefühlt wird da nochmal mehr Alkohol getrunken. Einen wichtigen Unterschied gibt es in jedem Fall.
Welchen?
Die zeitliche Komponente. An Karneval werden die ersten Schnapsleichen morgens eingeliefert – und das geht den ganzen Tag so weiter. An Silvester staut es sich in den Stunden nach Mitternacht, wenn die meisten Raketen und Böller gezündet werden. Am Morgen des 1. Januars gibt es dann noch eine zweite Welle an Notfällen, wenn beispielsweise Kinder nicht abgebrannte Böller anzünden wollen und sich dabei verletzen.
Sollte Böllern grundsätzlich verboten werden?
Nein, wir leben ja nicht in Nordkorea. Volksfeste gehören zu unserem Leben dazu. Wer Böllern verbieten möchte, sollte konsequent sein und auch das Oktoberfest oder Karneval einschränken. Aus Sicht der Krankenhäuser kann ich alle Pyromanen nur ermutigen: Gehen Sie verantwortungsvoll mit Feuerwerkskörpern um.